Rede für Mario Merz, Salzburg, 16. August 2003
[testimonial image=““ name=“Peter Iden“ title=“Deutscher Theater- und Kunstkritiker“] Verehrter Mario Merz, verehrte Marisa Merz, Herr Bürgermeister Gollegger, verdienstvoller politischer Ermöglicher dieses Anlasses, hochgeschätzter Herr Matthias, der das Projekt finanziell ermöglicht hat, lieber Walter Smerling, unermüdlich begeisterter Durchsetzer, meine Damen und Herren –
Wenngleich in einer ganz anderen Landschaft und zu einer anderen Zeit, in der Nähe von Turin nämlich, bald nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, mag es doch eine Wiese gewesen sein ähnlich dieser, auf der wir uns heute morgen versammeln, zu der es den zwanzigjährigen Mario Merz immer wieder hinzog, um sich dort einzulassen auf eines der ältesten Abenteuer: das Wagnis der Weltnahme und zugleich der Weltschöpfung im Medium der Zeichnung. In einem später schriftlich fixierten Gespräch mit dem Freund Germano Celant hat der Künstler sich erinnert:
„Ich hatte mich in die Wiese gesetzt und sofort damit begonnen, auf einem ziemlich rauen Papier mit dem Bleistift Zeichnungen zu skizzieren, in denen die Idee vom Gras war und von den Blättern, die Vorstellung des Windes über dem Gras und über den Blättern und die Idee, dass sie ein Gemisch wären.“
Es ist bemerkenswert, wie schon in dieser Erinnerung an die frühen Jahre das unmittelbare Erlebnis der Natur von Merz überführt wird in eine Abstraktion: Die Zeichnungen wollen nicht Darstellungen sein von Gras und Blättern – ihre Notwendigkeit gewinnen sie vielmehr daraus, dass sie nicht die Sache selber, sondern die Idee von ihr zu fassen und bewahren versuchen, nicht das Abbild einer Gegebenheit, sondern die Vorstellung davon, wie sie ist und zugleich immerzu sich verwandeln in dem Wind, der Gras und Blätter bewegt.
Im Zusammenhang der philosophischen, erkenntnistheoretischen Tradition erweist sich das Konzept des jungen Mannes damals auf der Wiese bei Turin als den Entwürfen Platos und später der Neu-Kantianer verwandt. Innerhalb der Entwicklung in der modernen Kunst im vergangenen Jahrhundert markiert es den Anspruch auf die Autonomie, die Eigenständigkeit der künstlerischen Setzung, die Wirklichkeit nicht nachbildet, sondern selbst schafft. Diese Autonomie für sich zu behaupten, ist die epochale Leistung der Kunst der Moderne. Mario Merz ist einer ihrer herausragenden Protagonisten.
In seiner jüngsten Arbeit hier auf dem Mönchsberg ist nun der mit den frühen Zeichnungen gewollte Ausdruck für das Widerspiel von Realität und Idee noch gesteigert. Wir sehen Wiese und Baumgruppe, ein reales Naturstück, und darin eine Konstruktion von zwölf vom Boden aufsteigenden, in der Höhe zu einer Kuppel sich zusammenschließenden stählernen Bögen, einer Metapher für den gewissermaßen purifizierten, reinen Gedanken. An einigen der gewölbten Stangen sind blaue Neonzahlen gereiht, die nächst höhere Zahl ist jeweils die Summe der zwei vorangehenden Zahlen. Es war der aus Pisa gebürtige Leonardo Fibonacci, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Mathematiker am Hof jenes Friedrich, dem nach Entwürfen Fibonaccis die oktogonale Burganlage von Castel del Monte in Apulien zu danken ist, der in dieser Zahlensequenz einen Gradmesser für die Geschwindigkeit sich fortpflanzender Kräfte erkannte.
Eine Gesetzmäßigkeit der mathematischen Logik, der höchsten Form abstrakten Denkens, wird hier zitiert als Prinzip der Beschleunigung, das die Statik der Bogen-Konstruktion dynamisiert. Womit wiederum – das ist die poetische Kühnheit dieser Arbeit – eine Verbindung gestiftet wird zu den dynamischen Prozessen stetiger Umwandlung, die sich an der Natur erfahren lassen. Der Gegensatz zwischen dem Kunstzeichen und seiner natürlichen Umgebung wird also in aller Schärfe exponiert – zugleich aber auch aufgehoben. „Ich trage“, sagt Mario Merz in dem erwähnten Gespräch mit Celant, „einen Widerspruch zwischen den Gegensätzen in mir, zwischen Leere und Fülle, Tod und Leben“. Eines durchdringt das andere. Wir haben das hier vor Augen: Die Zweige und Blätter der Bäume, das Unwillkürliche der Natur reicht wie spielerisch hinein in die gebaute Struktur; wie ebenso diese ein wenig von ihrer formalen Strenge, in einer Art von italienischem, südlichem Kommentar zur nordischen sensibilité prussienne, fast anschmiegsam preisgibt an die gewachsene Umgebung.
Für die sinnliche Wahrnehmung ist das von großem, wenn man das sagen darf, von zärtlichem Zauber. Deutlich nehmen die stählernen Streben Momente des im Oeuvre von Merz zuerst um 1967/68 auftauchenden, von Halbkugeln gefangenen Raumes auf, die als von ihm so bezeichnete „Iglus“ längst eingegangen sind in die Kunstgeschichte. Der Begriff leitet sich her aus der uns fernen Kultur der Eskimos. Idee und Praxis des Iglus ist der in sich ruhende, nicht modulierte, gleichsam absolute Raum. Sehr realistisch: ein Ort des Schutzes, der Abschirmung gegen jedes Draußen. Und sehr optimistisch: ein Gebilde, das entsteht für das Verlangen nach Heimat, das keiner sterblichen Existenz sich erfüllt.
Oft war in der Vergangenheit die Außenhaut dieser Iglus von Merz dicht geschlossen, der Blick in das Innere versperrt durch Schiefertafeln oder Reisigbündel. Die Salzburger Arbeit hingegen – das ist das Neue – hält die Partien zwischen den Rippen des Gebildes offen und begehbar, das damit etwas seltsam Schwebendes annimmt – so als sei nun der Gedanke an Schutz und Heimat, sagen wir: die Hoffnung auf ein Bleiben im Haus, zum selbst schon fast nur noch erinnerten Wunschbild des Ephemeren, Flüchtigen geworden.
Das wäre dann eine dem Barock und also Salzburg sehr nahe Vorstellung. Viele Beziehungen unterhält dieses neue Werk von Mario Merz zu dieser Stadt, die unterhalb davon sich ausbreitet, Beziehungen zu den Kuppeln des Doms und der Kirchen, wie aber auch zu den natürlichen Formationen der Landschaft ringsum. Nicht zuletzt gibt es die Beziehung dieser Arbeit zu der im vorigen Sommer der Öffentlichkeit übergebenen von Anselm Kiefer vor dem Festspielhaus: In Kongruenz und Widerspruch manche philosophischen und literarischen Verbindungen zwischen diesen beiden Kunstwerken des so großzügig gedachten wie schwer realisierbaren Projekts, der Bildenden Kunst mehr Raum zu geben in der von Musik und Theater in ihrer aktuellen Erscheinung so nachhaltig geprägten Stadt. Wir sehen bereits jetzt: Salzburg kann auch für diese Kunst werden, was es für die anderen Künste schon lange ist: ein Schauplatz der Besten, deren Werke, wie die von Kiefer und Merz, zum festen Bestand des Bewusstseins der Epoche und darum – das war ein Grundgedanke Hofmannsthal für die Festspiele – uns allen gehören. So haben wir denn auch alle, Salzburger und Fremde, allen zu danken, die die Mühen der Durchsetzung auf sich genommen haben und hoffentlich auch weiter auf sich nehmen werden.
Das Werk von Mario Merz hier oben offenbart sich und hält sich zugleich auch verborgen: Von der Stadt aus sind nachts in der Höhe nur zwei, drei der Neonzahlen als blaue Punkte zu sehen. Positionslichter eines locus amoenus, freundlichen Orts, der jedoch auch luogo nascosto bleibt, verborgener Ort, dessen Wahrheit, wie im wirklichen Kunstwerk immer, auch sein Geheimnis ist.
Es wird so kommen, dass einmal ein Wanderer zufällig an diesen Platz auf dem Berg, unversehens an diesen Kunst-Grenz-Ort zwischen Wald und Stadt gerät. Für einen Augenblick des Innehaltens – was wird er empfinden? Und wenn es nur ein Staunen wäre angesichts einer nie zuvor wahrgenommenen, glücklichen Liaison von Geplantem und Gewachsenem, von Natur und Ratio, die beide uns immer bestimmen und ausmachen – es hätte dann der Anspruch von Merz sich wohl schon erfüllt. Denn das sie uns staunen macht immer wieder, irritierend uns verführen kann zu dem alten „Taumazein“ – es ist der Ruhm der Kunst; und uns ein Glück Mal für Mal.[/testimonial]