Rede für Marina Abramovic, Salzburg, 21. August 2004
Die Stadt und die Stühle
Im Flüchtigen das Bleibende: „Spirit of Mozart“ von Marina Abramovic in Salzburg
[testimonial image=““ name=“Peter Iden“ title=“Deutscher Theater- und Kunstkritiker“]Im Allgemeinen denken wir den Werken der Kunst freundlichere Orte zu als den Platz, den Marina Abramovic für ihre jüngste Arbeit, „Spirit of Mozart“, akzeptiert hat. So war es, als die Salzburg Foundation im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit – nach Anselm Kiefers Hommage an Ingeborg Bachmann, „A. E.I.O.U.“, vor dem Festspielhaus 2002 – das Werk des inzwischen verstorbenen Mario Merz übergab: „Ziffern im Wald“, poetische Konfrontation von Natur mit durch eine Zahlenreihe repräsentierter Rationalität. Zwischen den Bäumen hart am Rande des Mönchsbergs, hoch über der Stadt: wirklich ein „locus amoenus“, lieblicher Schauplatz für eine filigrane Skulptur von geheimnisvollem Zauber.
Und jetzt? Von drei Seiten ist der Ferdinand-Hanusch-Platz [hier war das Werk zunächst installiert, Anm. der Salzburg Foundation], auf dem wir die für Salzburg entworfene Arbeit von Marina Abramovic vor Augen haben,
umflossen von in der Regel dichtem Straßenverkehr; zusätzlich leitet der nahe Steg über die Salzach Menschen auf diese Verkehrsinsel zu. Dass sie einmal ein Kunstort werden könnte – es brauchte schon ein hohes Maß an träumerischer Kühnheit, sich das vorzustellen.
Jedoch, wir erleben das jetzt: Wo auch immer die Kunst hinreicht, verändert sie die Umgebung. Nicht mehr wird dieser Platz in Zukunft sein, was er solange war: ein „no place“, unbedeutendes Nirgends, ein Niemandsfleck in der Landschaft der Stadt. Wir sehen jetzt dort einen fünfzehn Meter hoch aufragenden, von langen Beinen in luftiger Höhe gehaltenen Stuhl, gleich einem ins Unerreichbare entrückten Thron, dem freilich die Sitzfläche fehlt, steht man direkt darunter und schaut hinauf, erfasst der Blick den Himmel. Zu Füßen des hohen Stuhls und auf ihn hin ausgerichtet finden sich acht Stühle im gängigen, gewohnten Format solcher Möbel. Verblüffender Wechsel der Maße: der Stuhl als vereinzeltes Monument, fast ein archaisches Zeichen, sehr fremd; und andererseits achtmal als gebräuchliches Requisit, wie wir ihn kennen und täglich nutzen, sehr vertraut.
Was mit dieser Konstellation, die das gleiche Objekt vorführt in einer Vergrößerung und in seiner bekannten Dimension, geschaffen ist, will die Künstlerin verstanden wissen als ein Ambiente der Meditation. Tatsächlich soll Platz genommen werden auf den acht Stühlen, der Appell zielt darauf innezuhalten, das Angebot ergeht an den immer eiligen Zeitgenossen, für einen Moment sich herauszunehmen aus seiner Bewegung, dem Betrieb sich zu entziehen, der gleichwohl präsent bleibt in dem Verkehr der unmittelbar angrenzenden Straßen. Wie die Konditionen des Lebens generell, sagt Abramovic, hätten sich auch die Bedingungen für das meditative Intervall durchaus verändert: die Gelegenheit finde sich überall und könne überall ergriffen werden, sogar mitten im städtischen Verkehrsfluss. Daran ist richtig, dass ja wirklich jedem Moment der Besinnung ein Trotzdem, ein Dennoch, ein Nun-Gerade einbeschrieben ist: Meditation muss gewollt werden, intentional sein – je ärger die Umstände, umso dringlicher. Darauf weist die nun auf der Verkehrsinsel entstandene Situation mit allem Nachdruck hin.
Zugleich thematisiert die Arbeit, wie schärfer kaum denkbar, den Gegensatz von privat und öffentlich. Allemal ist doch Besinnung ein intim-privater Akt, der nun aber hier als Möglichkeit im öffentlichen Raum vorgeschlagen wird. Mit der dabei unvermeidlichen Konsequenz, dass durch die private Entscheidung auch das öffentliche Verhalten sich verändert: Man wird ja von der Straße aus beobachten können, wer Platz nimmt auf einem der Stühle – notwendig wird die Beobachtung auch die Beobachter aufmerksam machen für sich selbst und womöglich sie verführen zu einem momentanen Stop in ihrem eigenen Lebensbetrieb.
Es ist ja das unsere Doppelnatur: Dass wir bestimmt sind von der Absicht, uns zu regen, weiterzugehen, uns fortzubewegen – ebensosehr aber auch von dem gegenläufigen Wunsch nach Aufenthalt und Dauer. Im Ephemeren, Flüchtigen, Transitorischen nistet als dessen Gegengedanke das Verlangen zu bleiben, ja: man kann sagen, das Bleibende ist nachgerade Wunschbild und Hoffnung des Ephemeren. So ist dieses Werk von Marina Abramovic auch ein Beitrag zum Wesen des Passageren und zum Charakter des Passanten, der im Zuge der Entwicklung der großen Städte eine Kennfigur der Moderne wurde.
Unübersehbar an dieser Stelle die Beziehung zum Geist der Musik, in deren Rückkehr wieder und wieder zum Motiv der Gedanke an ein Bleibendes bewahrt wird im Fortgang der Melodie. Darum ist die Künstlerin im Recht, wenn sie mit ihrer Arbeit auch die Erinnerung beschwören möchte an Mozart. Biographisch auch er im Übrigen in Hinsicht auf seine Geburtsstadt Salzburg einer, der fortwollte von dem Ort, zu dem es ihn aber auch immer wieder zurückzog.
Zu dem bisherigen Gesamtwerk von Abramovic unterhält die neue Arbeit viele Verbindungen. Das Angebot der Teilnahme, der Vorschlag zur Partizipation des Publikums, ist ein Grundzug der Performances, Objekte und multimedialen Installationen, die die Künstlerin in den vergangenen Jahrzehnten weltweit verwirklicht hat. So, wie sie auch ihre eigene Existenz oft physisch eingebracht hat in ihre Darstellungen. Schon 1974, den Auftritt nannte sie „Rhythm 0“, führte sie sich selbst vor als ein Objekt, und bot dem Publikum an, mit einem Lippenstift und einer Rose, aber auch mit einem Messer und einem Gewehr auf sie zu reagieren – ein Abenteuer, das sie glücklicherweise überlebt hat.
Schließlich eine literarisch-theatralische Assoziation, die sich aufdrängt. 1951 schrieb der Dramatiker Eugene Ionesco das Theaterstück „Les Chaises“ („Die Stühle“). Es ist einer der großen Texte des modernen Theaters. Ein sehr altes Paar empfängt in seiner Wohnung die Repräsentanten einer ganzen Gesellschaft, von den kleinen Leuten bis hinauf zum Kaiser. Für die vielen Gäste schleppen die beiden Alten immer neue Stühle herbei, die realiter aber alle leer bleiben: weil nämlich die Ankömmlinge nur existieren in der Phantasie ihrer Gastgeber. Nur in den für sie bereitgestellten Sitzgelegenheiten, den Stühlen, die bald den gesamten Raum füllen, realisieren sich die sonst unsichtbaren Eingeladenen. Es ist die Macht der Imagination, die in der Groteske Ionescos die Welt schafft. Etwas von dieser Herausforderung, nun vorgetragen in die Stadt Salzburg, ist auch enthalten in dem Arrangement der Stühle von Marina Abramovic.
Am Ende des Stücks von Ionesco werden die Alten von der eigenen Einbildungskraft herausgedrängt aus ihrem Leben. Sie stürzen sich aus dem Fenster in das Wasser, das ihr Haus umgibt. Indes, so muss es in unserem Fall trotz der nahen Salzach nicht unbedingt kommen. Im Gegenteil, Platz nehmen!, heißt hier die Parole. Und wäre es nur in der Vorstellung, die einer sich davon macht: Es reicht ja keine unserer Begabungen über diese hinaus.[/testimonial]