Inaugural Address by Peter Iden for Anthony Cragg, Salzburg, 25. July 2008

Text only in German:

So nie zuvor gesehene Formen in die Welt bringen
Zu Anthony Craggs „Caldera“ in Salzburg

[testimonial image=““ name=“Peter Iden“ title=“Deutscher Theater- und Kunstkritiker“]

Meine Damen, meine Herren,

„Schauen Sie sich um, beinah alles in unserer heutigen Umgebung ist in der formalen Erscheinung sehr oft bestenfalls mittelmäßig, dient ökonomischen Zwecken und ist überhaupt eine Konsequenz der Ökonomie – da hat nun die Bildhauerei eine außerordentliche Rolle: Sie allein kann ganz neue, nie zuvor so gesehene Formen in die Welt bringen. Damit erfüllt sie auch eine deutlich politische Funktion.“ Die Bemerkung, die auch ein Bekenntnis ist, stammt von Tony Cragg, dessen jüngstes skulpturales Werk, mit dem Titel „Caldera“, die Salzburg Foundation heute morgen der Öffentlichkeit übergibt.

„Neue, nie zuvor so gesehene Formen in die Welt bringen“ – das scheint Tony Cragg mit der Figur, die wir jetzt auf dem durch sie neu definierten Makartplatz vor uns sehen, tatsächlich gelungen zu sein. Keiner von uns wird ja sagen können, er habe dergleichen schon einmal gesehen. Auf spitzen Stützen in Balance gehalten türmt sich, in Bronze gegossen, ein mehrfach gegliedertes, reich modelliertes Gebilde auf, eine Eruption, die entstanden sein könnte durch eine vulkanische Aufwerfung, der Titel der Arbeit, „Caldera“, zitiert einen Terminus aus der Geologie, der einen durch explosive Energien hervorgebrachten Kessel bezeichnet. Auffällig ist an dem Werk die Anmutung eines Strömens und Fliessens, eine Dynamik, die an der fertigen Gestalt noch die Erinnerung bewahrt an den Prozess ihres Entstehens.

Das wirklich Überraschende aber an diesem fremdartigen Gebilde erschließt sich beim näheren Hinsehen: Aus unterschiedlichen Positionen betrachtet, lassen sich nämlich menschliche Physiognomien, Köpfe und Gesichter erkennen, als einzelne, je für sich, aber auch, in einem Fall besonders nachdrücklich, einander berührend, sich förmlich aneinander pressend. Die eruptive Aufwerfung gewinnt damit eine gleichsam soziale Komponente: Zu sehen ist eine abstrakte Komposition im Übergang zu einer hoch eigenwilligen Gegenständlichkeit, einer Gegenwärtigkeit von Antlitzen sehr individueller Ausprägung.

In der neueren Geschichte der modernen Skulptur hat dieses von Tony Cragg eingebrachte, aus der Abstraktion entwickelte humane Element bedeutende Vorbilder, prominenteste Beispiele sind die fragilen, stehenden oder schreitenden Gestalten Giacomettis, und auch die Figuren Balkenhols, von dem seit dem vorigen Sommer zwei auch im öffentlichen Raum Salzburgs präsent sind. Sowohl Giacometti als auch, auf ganz andere Weise, Balkenhol betonen die Isolation des Subjekts – während Cragg die Gesichter zusammendrängt, als suchten sie Nachbarschaft, Nähe, Zuwendung. Im fremden Antlitz die Möglichkeit einer Verbindung, eines Halts gegenüber der Anonymität in der zeitgenössischen Massengesellschaft unablässig uns begegnender Gesichter.

In jedem Sommer ist in Salzburg, wie an kaum einem anderen Ort, ein Gedränge, Geschiebe von Menschen zu erleben, wir sehen flüchtig in tausend Gesichter – man überstrapaziert den Bezug von Craggs Skulptur zu ihrem Schauplatz Salzburg gewiss nicht, wenn man sie auch begreift als einen Kommentar zu dem Menschengewimmel im Straßenbild der Stadt – und als einen Kommentar zugleich zu dem Verlangen, die fremd uns Begegnenden könnten, immerhin von Fall zu Fall in uns Vertraute sich verwandeln. Cragg gibt so das Bild eines Zustandes und zugleich die Vision von dessen Überwindung.

Das ist ein neuer Zug im Werk dieses Bildhauers. Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die ersten Arbeiten von ihm in Ausstellungen zu sehen waren, konnte man sich täuschen. Die Ausschüttungen wahlloser, banaler Gegenstände, die dann zufällig herumlagen, ließen Situationen entstehen, die bekannt vorkamen, ein wenig wie Zitate aus damals schon vergangenen Jahren, als die Fluxus- und Happening-Bewegung die triviale Dingwelt des Alltags als Material der Kunst entdeckte, bemerkbar war an Craggs Arrangements eine gewisse formale Beliebigkeit.

Der Eindruck hat sich später entschieden verändert: Zu erleben war jetzt ein Plastiker mit einem im Gegenteil sehr klaren Sinn für die formale Bestimmtheit seiner Schöpfungen, vor allem aber ein Künstler, der sich leiten ließ von dem Material, den Werkstoffen, mit denen er sich jeweils beschäftigte. Das Ergebnis war eine große Vielfalt von Lösungen, einander grundsätzlich allerdings verbunden durch den Anspruch auf Autonomie, eben auf die eingangs zitierte eigene Realität so nie zuvor gesehener Formen. Die Wendung ins Figürliche, die jetzt in der jüngsten Arbeit das Menschenbild thematisiert, ist ein spannender Schritt in der Entwicklung des Künstlers – das Salzburger Werk ist damit im Oeuvre dieses Bildhauers ein Beispiel von hoher Aktualität.

Anthony Cragg ist Engländer, er arbeitet, lehrt und lebt seit vielen Jahren, seltsam genug, in Wuppertal. Es war eine Liebesgeschichte, die ihn an diesen Ort verschlagen hat. Arbeiten von Cragg sind inzwischen weltweit gefragt. In einem von ihm erworbenen und hergerichteten Park im Zentrum Wuppertals, der in diesen Tagen für die Öffentlichkeit zugänglich wird, hat er achtzehn seiner Skulpturen aufgestellt, die das Publikum sich erwandern kann. Es komme ihm immer darauf an, sagt Cragg, seine Linie zu halten, sonst nichts. Diese Ausrichtung führt ihn mit „Caldera“, diesem Gesichter-Kessel, auf ein rational wie emotional erstaunliches, neues Terrain. An dessen Erkundung, mit allen Risiken, die das einschließt, teilzunehmen, sind wir aufgefordert. Dem Künstler ist zu danken für die Gelegenheit und für das ästhetische Abenteuer, auf das sich einzulassen er uns vorschlägt. Thank you Tony.

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