Olga Neuwirth

Piazza dei numeri für hohen Sopran und kleines Ensemble zu „Ziffern im Wald” von Mario Merz

Olga Neuwirth – Foto: Stephenie Berger

Olga Neuwirth (*1968) studierte in San Francisco am Conservatory of Music und am Art College Malerei und Film. In Wien führte sie ihre Studien an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst sowie am Elektroakustischen Institut weiter. Wesentliche Anregungen erhielt sie durch die Begegnungen mit Adriana Hölszky, Tristan Murail und Luigi Nono. 1991 wurde Olga Neuwirth mit Ihren beiden Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek das erste Mal international bekannt.

1998 wurde sie im Rahmen der Reihe „Next Generation“ bei den Salzburger Festspielen in zwei Porträtkonzerten vorgestellt und im darauffolgenden Jahr kam ihr erstes abendfüllendes Musiktheater „Bählamms Fest“ mit einem Libretto der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nach Leonora Carrington bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung. Ihr für Pierre Boulez und das London Symphony Orchestra geschriebenes Werk „Clinamen/Nodus“ war nach der Londoner Uraufführung 2000 in einer weltweiten Tournee zu hören.

2002 war sie „composer in residence“ bei den Luzerner Festwochen, wo sie auch schon, als es noch nicht üblich war, das Remixen Ihrer Musik durch DJ Spooky aufs Programm setzte. 2003 wurde ihr Musiktheater „Lost Highway“ nach dem gleichnamigen Film von David Lynch uraufgeführt und der Neuproduktion der English National Opera im Young Vic wurde 2009 der „South Bank Show Award“ verliehen.

Seit ihrer Teenager-Zeit interessiert sich Neuwirth für Wissenschaft, Architektur, Literatur, Film und Bildende Kunst und daher war ihr ein spartenübergreifendes Denken von Beginn Ihrer Karriere nicht fremd. Aus diesem Grund iniziierte sie immer wieder Zusammenarbeiten mit Künstlern aus anderen Sparten. Wegen Ihrer frühen Video-Musik-Arbeiten gilt sie in der sogenannten „Neuen Musik“-Szene dafür als Pionierin. Aus diesen vielfältige Interessen heraus entstanden zwischen 2002–2006 verschiedene Klanginstallationen, Theater- und Filmmusiken, die mit der Einladung zur dokumenta 12 in Kassel ihren Höhepunkt fand. Den Sonderweg dieser Komponistin, die sich immer schon ästhetischen Grenzziehungen verweigert hat, macht auch aus, dass sie schon früh darauf bedacht war, auch “sounds” anderer Genres in ihre persönliche Musiksprache zu integrieren. 2006 und 2009 entstanden zwei Solokonzerte: ein Trompetenkonzert für Håkan Hardenberger und eine Viola-Konzert für Antoine Tamestit.

Sie erhielt verschiedene nationale und internationale Preise. 2010 den Großen Österreichischen Staatspreis. 2006 wurde sie zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin gewählt und einige ihrer Werke sind auf dem Label KAIROS erhältlich. 2012 gab es die Premieren gleich zweier neuer Musiktheaterwerke: „The Outcast“ eine Hommage an Herman Melville und „American Lulu“, eine Neuinterpretation von Alban Berg’s „Lulu“. Diese wird 2013 in einer Neuproduktion in Bregenz, Edinburgh und London zu hören sein. Im Herbst 2013 erscheint das Fotobuch “O Melville!” zu Ihrer Melville-Masken-Performance in NYC 2010/2011 beim Salzburger Verlag Müry-Salzmann. Im Moment arbeitet sie an einem Hörspiel über Herman Melville mit Josef Bierbichler und dem Tölzer Knabenchor, einem einstündigen Elektronik/Raum/Ensemble-Stück für das Ensemble Intercontemporain sowie einem Orchesterwerk für die Wiener Philharmoniker.

„Piazza dei Numeri“

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich nicht noch einmal musikalisch/kompositorisch mit Zahlen zu beschäftigen: ich drohe, ihnen obsessiv zu verfallen. Lieber wollte ich mich auf einen Künstler beziehen, der mich mit seinen pseudo-dokumentarischen Rekonstruktionen und künstlerischen Auseinandersetzungen zu Themen wie Erinnerung, Vergänglichkeit, menschlichen Abgründen, Fragmentierung, zu Vergangenheit und ihrer Rekonstruktion seit vielen Jahren beschäftigt – Christian Boltanski. Dafür kam die Einladung, an diesem Projekt teilzunehmen, zu spät. Bei näherer Betrachtung erschien mir nach der Absage, mich auf Boltanski beziehen zu wollen, Mario Merz’ Iglu im Wald am Mönchsberg, in seiner symmetrischen, eleganten Konstruktion mit den so luftig schwebenden 21 Fibonacci-Zahlen in Neon, gut für eine „Reaktion“ . Vielleicht, weil es vom Wind durchweht wird und mich seine leuchtenden Zahlen sofort anspringen.

„Ziffern im Wald“ haben mein altes Interesse an den Naurwissenschaften wachgerufen, und mich an meine einstmalige Beschäftigung mit der „Accademia dei Lincei“ erinnert. Ihre Mitglieder wollten im frühen 17.Jahrhundert die Natur der Dinge mit einem solch scharfen Wahrnehmungsvermögen wie die Luchse erforschen, und gaben sich daher den Namen Lincei: die Luchsartigen. Ihr wohl berühmtestes Mitglied war Galileo Galilei. Da sie weitgehenst im Geheimen arbeiten mußten, erinnerte mich das auf ironische Weise an mein eigenes Komponieren und meine innere Notwendigkeit, meine Umgebung genau zu beobachten – was freilich Mißtrauen erweckt, damals wie heute -, sowie hinter die Dinge schauen zu wollen, um das Unbekannte, Unausgesprochene, Verdrängte zu erforschen. Und vielleicht wurde doch mein altes Interesse an Zahlen, mit denen ich nicht mehr konfrontiert werden wollte, wieder „getriggert“ durch das Durchschreiten von Merz’ Iglu an einem kalten Dezembertag bei düsterem Licht – im Gegensatz zu meinem ersten Besuch in hellem, gleißendem Licht eines heißen Augusttages vor vielen Jahren, als man die Zahlen nur schemenhaft erkennen konnte.

Das Wirken des mittelalterlichen Pisaner Mathemathikers Leonardo Pisano, genant Fibonacci, und seines bedeutenden Buches „Liber Abbaci“ – in dem er auch die erste, heute nach ihm benannte unendliche, rekursive Zahlenreihe aufstellt -schlug sich auch auf architektonische Entwürfe im „Goldenen Schnitt“ nieder, wie in der Konstruktion und dem spiralförmigen Fundament des „Schiefen Turms“ auf der „Piazza dei Miracoli“ in Pisa. Die Erscheinung dieses Campaniles unterliegt einem einzigen, homogen Konzept und wunderbar gemoetrischer Symmetrien.

Davon angeregt entschloss ich mich, in meiner Reflexion auf Mario Merz’s „Ziffern im Wald“, in seiner Mischung aus Klarheit und Schlichtheit, nur einem einzigen Konzept zu folgen, dies aber in einer hochverdichteten Atmosphäre aus Tönen. Ein Werk der bildenden Kunst kann nicht musikalisch „abgebildet“ werden – ebensowenig wie umgekehrt Musik von einem Bild. Möglich ist eine Reaktion, eine Transformation, für die ich mich hier (wie schon 1993 in meinem Stück „Lonicera Caprifolium“) von der in der Natur allüberall aufretendene Fibonacci-Reihe anregen lasse, im Sinne einer ästhetischen Verarbeitung, und von klanglichen Verästelungen. Ich richte meine Aufmerksamkeit in diesem Stück auf Musterbildungen in der Natur, wie schon einmal vor Jahren auf Symmetrien bei Schneekristallen. Daher reagiere ich weniger auf Merz’s Iglu-Konstruktion, als auf die an 12 Stahlbögen befestigten Ziffern – als Symbol eines Wachstums von „Blättern“, eines ewigen, unendlichen Werdens und Vergehens: also eher auf die Bäume und Büsche, die das Iglu umgeben. Ich lade Hörerin und Hörer ein, mit den Musikern und der Sängerin durch einen (Klang)Wald mit seinen zugleich anziehenden und beängstigenden Kräften zu gehen. Das Stück könnte in seinen Ähnlichkeits- und Differenzierungsvorgängen unendlich weitergehen, wie die Fibonacci-Zahlenfolge, aber ich breche es ab wie einen Ast an einem morschen Baum…

Olga Neuwirth, April 2013